Pilz ersetzt Leder

09.10.2020

Veganes Imitat aus Pilzmyzel eignet sich für Taschen, Schuhe und Kleidung. Es ist leichter, umweltfreundlicher und kostengünstiger als das tierische Vorbild.

"Neue Zürcher Zeitung" vom 23.09.2020 Seite: 41 Ressort: Forschung und Technik Von: Uta Neubauer

Auf dem Weg in eine nachhaltige Wirtschaft müssen viele Produkte, Prozesse und Materialien überdacht werden. Dazu zählt auch Leder, bei dessen Herstellung zu viel Wasser und noch allzu oft giftige chromhaltige Gerbstoffe eingesetzt werden. Kunstleder schneidet in Nachhaltigkeitsbewertungen zwar besser ab, wie Materialwissenschafter um Mitchell Jones und Alexander Bismarck von der Universität Wien in einem Artikel in der Fachzeitschrift «Nature Sustainability» berichten.1 Eine unbedenkliche Alternative ist das chemisch-synthetische Material dennoch nicht, da es aus Polyvinylchlorid (PVC), oder Polyurethan (PU) hergestellt wird – ein Produkt aus fossilen Rohstoffen also, das zum Plastikverbrauch beiträgt. Für alle, die sowohl auf tierische Produkte als auch auf Kunststoffe verzichten wollen, aber die Optik und Haptik von Leder schätzen, gibt es ein lederähnliches Material aus Baumpilzen wie dem Zunderschwamm. Es fühle sich sehr weich an, ein bisschen wie Wildleder, sagt die Berliner Designerin Nina Fabert. Sie ist die Gründerin des Unternehmens Zvnder, das Portemonnaies, Uhrenarmbänder und mehr aus Zunderschwamm-Lappen fertigt. Die Designerin bezieht ihren Werkstoff in ungefähr DIN-A4-grossen Stücken aus Rumänien, wo der Baumpilz seit Generationen genutzt wird.

Die Gewinnung des Lederersatzes klingt einfach, erfordert aber handwerkliches Können: Mit einem Beil wird der Pilz schonend vom Baum abgeschlagen, dann entfernt man seine harte Kruste, schneidet das weiche Innere in Scheiben, zieht diese von Hand in Form und trocknet sie. Für die Massenproduktion eigne sich das Vorgehen allerdings nicht, sagt Fabert. Anfragen aus der Bekleidungsindustrie sowie aus dem Automobilsektor habe sie aus diesem Grund schon ablehnen müssen.

Mehrere Unternehmen weltweit gehen daher einen anderen Weg: Statt des Fruchtkörpers, den wir gemeinhin als Pilz bezeichnen, nutzen sie das Myzel. Das sind jene feinen Pilzfäden, die wir meist nicht wahrnehmen, weil sie sich bei Wald- und Wiesenpilzen unter der Erde oder bei Baumpilzen im Holz verbergen. Die fadenförmigen Zellen lassen sich gut züchten. Man könne dafür jeden ungiftigen Pilz verwenden, erklärt der Materialwissenschafter Bismarck: «Auch aus Champignons lassen sich interessante Sachen machen.» In ihrem Artikel in «Nature Sustainability» beschreiben Bismarck und seine Kollegen die Herstellverfahren und Eigenschaften der so gewonnenen Lederimitate.

Die in der Biotech-Industrie etablierte Fermentation im mit flüssigem Nährmedium und lebenden Zellen gefüllten Bioreaktor eignet sich auch für die Myzel-Züchtung. Unter bestimmten Bedingungen bilden sich im Bioreaktor reichlich Pilzfäden, aber keine Fruchtkörper. Als Nährstoffe dienen kostengünstige Nebenerzeugnisse der Agrarindustrie wie Melasse. Die Pilzfäden werden aus dem Nährmedium isoliert und gereinigt, dann wieder aufgeschlämmt, zu Matten gepresst und getrocknet. Die Aufbereitung ähnelt der Papierherstellung, nur dass die Fasern in diesem Fall Chitin statt Zellulose enthalten. Chitin, chemisch eng verwandt mit Zellulose, ist die Stützsubstanz in der Zellwand von Pilzen.

Ein alternatives Verfahren erinnert an die Züchtung von Speisepilzen auf einem festen Substrat wie Sägemehl oder Reisspelzen. Spezielle Bedingungen, unter anderem eine hohe CO2-Konzentration, sorgen dafür, dass die Pilze keine Fruchtkörper bilden und die Hyphen nicht zu stark in das Substrat hineinwachsen. So entsteht eine Matte aus Pilzfäden, die nach wenigen Tagen von dem festen Substrat abgeschnitten wird. Die Technik sei einfach und erfordere weder biotechnisches Know-how noch vertiefte Kenntnisse der Pilzkunde, betont Bismarck. Daher könnten selbst kleinere Unternehmen die Lederalternative züchten.

Eine Nachbehandlung macht das Material beständiger und dehnbarer. Mit Natronlauge, Essigsäure oder Alkohol lassen sich Proteine, Kohlenhydrate und andere unerwünschte Stoffe sowie unangenehme Gerüche beseitigen. Ausserdem vernetzt sich das Chitin der Pilzfäden während dieses Prozesses chemisch. Bestimmte pflanzliche Zusätze oder Chemikalien können solche Quervernetzungen zusätzlich fördern und die Matten stabilisieren. Anschliessend werden sie auf die gewünschte Dicke gepresst oder gewalzt und, falls gewünscht, gefärbt sowie mit einer Maserung versehen. Bis zu 2,5 Quadratmeter grosser Lederersatz lässt sich so herstellen.

Das aus dem Myzel gewonnene Imitat sei leichter, aber ebenso zug- und reissfest wie echtes Leder, heisst es in dem Artikel in «Nature Sustainability». Die Produktion erfordere keine giftigen Chemikalien, sei CO2-neutral und zudem preisgünstig, betonen die Autoren. Basierend auf Angaben des amerikanischen Lederersatz-Produzenten Ecovative Design beziffern sie die Fertigungskosten auf weniger als 30 Cent je Quadratmeter. Zum Vergleich: Die Chemikalien für die Herstellung von Kunstleder aus Polyurethan kosten mindestens das Fünfzehnfache, für rohe Tierhäute lag der Grosshandelspreis im vergangenen Jahr bei 5 bis 6 Dollar je Quadratmeter.

Die Entwicklung und Herstellung des neuen Biomaterials sei vor allem industriegetrieben, unterstreicht Bismarck. Die Unternehmen Mycotech aus Indonesien, Mogu aus Italien und Ecovative Design sowie Mycoworks aus den USA stellen bereits Lederersatz aus Pilzfäden her. Bolt Threads aus Kalifornien, das mit Ecovative Design kooperiert, sowie Mycotech haben im Rahmen einer Fundraising-Kampagne schon Schuhe, Taschen, Portemonnaies und Co. aus dem Pilzmaterial hergestellt und so Kapital für den Geschäftsausbau eingeworben. Als Mycoworks auf der New York Fashion Week im Februar seine Lederkopie namens Reishi vorstellte, stand sogar in der Modezeitschrift «Vogue» ein lobender Artikel. «Der Markt schreit nach solchen Materialien», sagt die Berliner Designerin Fabert.

1 «Nature Sustainability», Online-Publikation vom 7. September 2020.